„Dopesick“: Ein geldgieriger Konzern treibt ein Land in die Sucht

„Dopesick“: Ein geldgieriger Konzern treibt ein Land in die Sucht

Wie gefährlich sind vermeintlich erprobte Schmerzmittel und setzte der Pharmakonzern Purdue Pharma in den 90er Jahren im Zuge des Profitstrebens fahrlässig die Gesundheit der Patienten aufs Spiel? Diesen Fragen widmet sich die neue vierteilige Miniserie „Dopesick“, die am Freitag (12. November) beim Streamingdienst Disney+ startet. Von dem erfolgreichen Sachbuch „Dopesick: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen“ (2018) der Journalistin Beth Macy inspiriert, rekonstruierten die Macher die Geschichte des US-amerikanischen Kampfes mit der Opioidabhängigkeit. Mit Erfolg: Neben schockierenden Einblicken bietet „Dopesick“ gleich mehrere brillante Leistungen namhafter Schauspieler – allen voran Golden-Globe-Preisträger Michael Keaton (70, „Birdman“).

Die USA und die Schmerzmittelsucht – ein anhaltendes Drama

1995 brachte der Konzern Purdue Pharma das Analgetikum OxyContin auf den US-amerikanischen Markt. Dank einer angeblich äußerst geringen Wahrscheinlichkeit, eine Abhängigkeit zu entwickeln, mutierte das Medikament – auch mithilfe der Lebens- und Arzneimittelbehörde FDA – über wenige Jahre zu einem der umsatzstärksten Arzneimittelprodukte der Welt. Später wurden Purdue und OxyContin zunehmend mit der grassierenden Opioid-Epidemie in den USA in Zusammenhang gebracht und ihre Werbestrategien und Machenschaften im Hintergrund untersucht. Bis 2020 starben über 450.000 Menschen durch den Missbrauch von Opioiden, der Großteil von ihnen bekam die Schmerzmittel zuvor legal durch Ärzte verschrieben. Das Unternehmen Purdue Pharma ist heute insolvent, die Opioidkrise dauert an.

Die ersten Szenen von „Dopesick“ (der Begriff beschreibt die Entzugserscheinungen beim Schmerzmittelmissbrauch) steigen am Ende der Handlung ein, in einem Gerichtssaal wird gegen Purdue Pharma verhandelt. Im Zeugenstand sitzt der Hausarzt Dr. Samuel Finnix (Michael Keaton), der Jahre zuvor zunächst an den Nutzen des neuartigen Schmerzmittels glaubte und den Menschen in seiner Heimatstadt OxyContin verschrieb. Schon bald stellte er jedoch fest, dass er sich mithilfe des jungen ehrgeizigen Pharmavertreters Billy Cutler (Will Poulter, 28) zum Mittäter machen ließ, der seinen Patienten – hauptsächlich hart schuftenden Minenarbeitern – ungewollt den Weg in die Abhängigkeit ebnete.

Spannung bleibt trotz Zeitsprüngen erhalten, Charaktere erzeugen Abscheu und Mitgefühl

Die Macher des vierteiligen Dramas, zu denen auch Keaton selbst in seiner Funktion als ausführender Produzent zählt, nehmen jedoch nicht gleich zu Beginn das Ende vorweg. Stattdessen springt die Handlung immer wieder zwischen unterschiedlichen Zeitpunkten hin und her. Es wirkt fast, als solle der Zuschauer eine Art Puzzle zusammensetzen, das am Ende ein stringentes Gesamtbild zeichnet. Dass diese Vorgehensweise die Gefahr birgt, durch Verwirrung Langeweile beim Publikum auszulösen, dürfte Keaton und Drehbuchautor Danny Strong (42) bewusst gewesen sein.

Trotzdem gingen sie ihren Weg – und die Rechnung geht auf. Das liegt zum einen an den perfekt zusammengesetzten Handlungselementen, die trotz der Zeitsprünge einen roten Faden spinnen und die Spannung halten. Zum anderen löst „Dopesick“ dank der brillant dargestellten Charakterzüge seiner Protagonisten zugleich Abscheu und Mitgefühl aus. Da wäre zum Beispiel der ruchlose Purdue-Chef und Machtmensch Richard Sackler, der sein Medikament unbedingt auf den deutschen Markt bringen will und den die Absageerklärung „Die Deutschen glauben nicht an Opioide, sie glauben, dass Leiden zum Heilen dazu gehört“ nicht zufrieden stellt. Seine überragende Verkörperung durch Michael Stuhlbarg (53) lässt den Zuschauer fast schon gruseln.

Will Poulters Spiel gibt dem Egoismus von Pharmavertreter Billy Cutler zwar ebenfalls Raum, lässt die Tatsache jedoch nicht außer Acht, dass der junge Purdue-Mitarbeiter selbst skrupellos geschult wurde, um Ärzte zu überzeugen. Getreu dem Motto „Was auch immer es braucht, um ihr Vertrauen zu gewinnen“ werden Benzintanks umsonst aufgefüllt, Tickets für Disney-World verschenkt und Wochenenden mit vermeintlichen Fachvorträgen bezahlt.

Michael Keaton liefert als einfühlsamer, aber naiver Provinzarzt eine Glanzleistung ab

„Dopesick“ macht aber nicht nur zeitliche Sprünge. Die Miniserie wechselt auch zwischen den unterschiedlichsten Orten hin und her, darunter die Vorstandsetage des Pharmariesen Purdue, das Büro der US-Drogenvollzugsbehörde DEA und eine kleine Bergarbeitergemeinde im ländlichen Virginia. Der Fokus liegt vorwiegend auf den Alltagshelden, die sich mutig die würdelosen Profiteure der Krise samt ihrer Verbündeten zur Brust nehmen. Allen voran Dr. Finnix, in dessen Rolle Michael Keaton, der selbst einen Neffen durch eine Opioidüberdosis verlor, eine seiner wohl besten Darbietungen abliefert – die sicher bei kommenden Preisverleihungen Beachtung finden wird. Zeitweise untermalt von melancholischer Country-Musik des Genre-Virtuosen Johnny Cash (1932-2003), mimt der „Birdman“-Star den einfühlsamen Kleinstadtarzt, der sich als Witwer ganz seiner Gemeinde widmet, mit eindrucksvoller Authentizität. Hier ist der Arzt noch zugleich Seelsorger und Freund. Gleichzeitig wird die Naivität des alternden Mediziners deutlich, die ihn nur allzu blauäugig in den Kreis der OxyContin-verschreibenden Ärzte treibt.

Neben Keaton, Poulter und Stuhlbarg sind auch Peter Sarsgaard (50) und Rosario Dawson (42) in tragenden Rollen zu sehen. Sie alle sorgten dafür, dass „Dopesick“ ein wahres Serienhighlight geworden ist. Ebenso wie die 24-jährige Kaitlyn Dever, die als vom Leben gebeutelte Mienenarbeiterin Betsy Mallum schon früh in die Abhängigkeit rutscht. „Dopesick“ ist so gut, dass – ginge es rein um den Unterhaltungswert – sofort der Ruf nach einer Fortsetzung laut werden müsste. Leider ist die Geschichte dahinter jedoch wahr und fordert noch immer jedes Jahr zahlreiche Menschenleben – weshalb lediglich zu hoffen bleibt, dass die Miniserie zur Aufklärung beiträgt.

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