Merkwürdiger Tod eines Schriftstellers, gesammelte Lebenserfahrungen und Morde ohne Opfer – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Pinnow, 01.12.2023 (lifePR) – Es ist ein Buch mit einem im wahrsten Sinne des Wortes explosiven Einstieg – das zweite der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 01.12. 23 – Freitag, 08.12. 23) zu haben sind. Und es ist ein Krimi, der in den aufregenden DDR-Zeiten von 1989/90 spielt. Autor Wolfgang Schreyer lässt in „Nebel“ zum zweiten Mal seinen Kommissar Christian Wendt ermitteln. Dieser bekommt es diesmal mit einem Schriftsteller zu tun – und zwar mit einem toten Schriftsteller: „Wer mit Sprengstoff hantiert, der fliegt leicht selber in die Luft“, hatte Richard Nebel kurz vor seinem plötzlichen Tod zu dem Kriminalisten Wendt gesagt. Hatte er da vielleicht auch an den Stoff für seinen geplanten Politthriller gedacht? Dann hätte ihm das Wissen um die Gefahr allerdings wenig genützt. Christian Wendt jedenfalls hat Zweifel an einem Unfalltod Nebels und mit einem Mal den Verdacht, dass in dem Land, dem er mit Leib und Seele dient, das staatlich organisierte Verbrechen längst eine feste Größe ist.

Christian Wendt, mit Leib und Seele Polizist, schließt ein Verbrechen nicht aus und gerät bei dem Versuch, zwei Herren zu dienen – der Wahrheit und seinem „Staat“ -, in ein Netz von Erpressung und Betrug, Lüge und Mord, von Bestechung und Angst und schließlich in die Fänge jener Organisation, der womöglich auch Nebel zu nahegekommen ist. Wird er herausfinden, wie nahe? Und wird er trotz allem seine Haut retten können?

Dieser miese schöne Alltag“ – unter diesem Titel hatte der kürzlich verstorbene Potsdamer Schriftsteller Manfred Richter in Erzählungen und Gedichten die Summe seiner Lebenserfahrungen gezogen.

Mit einem ebenso unerwarteten wie schockierenden Schluss endet der schwarze Krimi „Der Serienmörder, den man nicht stellte“ von Jan Fieger. Aber lesen sollte man dieses spannende Meisterstück trotzdem von vorn und Seite um Seite. Es gibt zwar Morde, aber keine Opfer.

Tiergeschichten, die zugleich Menschengeschichten sind, die erzählt Dietmar Beetz in „Weihnachtshund und Bambusrüssel“. Überhaupt ist doch alle Literatur Erzählen vom Menschen.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Diesmal geht es um einen Helden, einen Helden wider Willen, dem zu DDR-Zeiten höchst Merkwürdiges widerfährt. Und einen ungewöhnlichen Traum, den hat er auch noch.

Erstmals 1983 veröffentlichte Egon Richter im Hinstorff Verlag Rostock „Der Tod des alten Mannes“: Herrschaften! Lest! Die tragikomische Geschichte des Robert Küster. Ein Held wider Willen, ja, mehr aus Zufall, der dauernd in die merkwürdigsten Situationen gerät. Was Wunder, wenn ihn mancher Zeitgenosse in zwielichtigem Schillern zu sehen glaubt. Er lebt im Widerstreit mit allem, was ihm begegnet, im Widerstand kaum. Er ist ein Feind der Anpassung, aber wie das Leben so spielt: er ist ihr ausgeliefert. Er ist Bergmann und Fischer, er arbeitet in der Munitionsfabrik und im Sägewerk. Er hat eine Biografie wie viele. Und doch, und doch …

Er liebt die Anna und muss sich mit Grete herumschlagen. Er fängt den Witting im Bodden und träumt von Samoa. Sein Sohn aber ist nach Sydney verzogen, und das zu DDR-Zeiten.

Da schickt ihm sein treuester Gegner Rosen, und die Uhr des Kaisers — ja, sie tickt immer noch in seiner Hand, wie das Leben in dieser Kiste, dieser alten Zigarrenkiste …

Mehr wird nicht verraten. Herrschaften! Lest! Die tragikomische Geschichte des Robert Küster!

So komisch ist es im 2. Weltkrieg nun doch nicht, wie Sie an der Leseprobe sehen:

Über die niedergewalzten Felder wehte ein Geruch von Korn und schwelendem Brand. Hinter ihnen glösten die Reste des Dorfes. Vor ihnen stieg der Hügel an, unter dessen zerrupfter Pappel das russische MG-Nest liegen musste, vielleicht auch eine ganze Kompanie; wer konnte das wissen? Es war Neumond. Nur der fahle Schein der Sommernacht ließ sie die Konturen der Landschaft erkennen.

Es ging auf den Morgen zu. Sie mussten sich beeilen. Sie zogen sich die Böschung hinauf und lagen flach auf dem Boden.

Sie starrten auf die Stelle, an der sie das MG und die Russen vermuteten, und versuchten irgendetwas zu erkennen oder zu hören, aber nur ein lauer Wind strich über das Land und zirpte in den Blättern. Hinter ihnen, im Grabenunterstand, schnarchten die anderen. Auf dem Hügel unter der Pappel war alles still.

„Mensch, Robert“, flüsterte Gutschmid, „was machen wir, wenn keiner mehr da ist, wenn sie sich verzogen haben wie überall in den letzten Wochen.“

„Sie sind da“, sagte Robert Küster verbissen, „verlass dich drauf!“

„Schön“, flüsterte Gutschmid entschlossen, „dann wollen wir. Egal was kommt.“

Sie sahen sich an und wussten: wenn sie jetzt nicht gingen, dann würden sie nie mehr gehen. Und gehen wollten sie, trotz all ihrer Ängste. Wenn es gegen die Russen geht, hatte Robert Küster zu Anna gesagt, bevor er einrücken musste, dann lauf ich über, bei der ersten besten Gelegenheit, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Da hatte sie etwas gesagt, das er nicht von ihr erwartet hätte, denn so etwas wurde nicht ausgesprochen zwischen ihnen. Wenn dir was passiert, Robert, dann kann ich nicht mehr leben. Er hatte ihr mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht gewischt und mit großer Mühe hervorgebracht: Mir passiert nichts, Anna.

Daran musste Robert Küster denken, als er neben Gutschmid auf der Grabenböschung lag. und er war sich keineswegs mehr sicher, dass ihm nichts passieren würde. Aber wenn sie jetzt nicht gingen, dann würde die Angst über sie herfallen und sie zurücktreiben in den Graben.

Sie stießen sich aus ihrer Hockstellung ab und liefen auf den Hügel zu, gebückt, keuchend, getrieben von der Furcht, entdeckt zu werden. Sie stolperten über Steine und Unebenheiten, warfen sich in das nachtfeuchte, niedergetrampelte Korn. Überall glaubten sie Geräusche zu hören, aber sie waren sich nicht sicher, ob es nicht ihr eigener Atem war. Sie stießen sich wieder ab und rannten weiter. Da fing das Maschinengewehr auf dem Hügel anzurattern. Hinter ihnen stürmte die Kompanie aus dem Graben, sie hörten die Kommandos des Leutnants und die beiden kleinen Pak, die sich auf das russische MG einschossen.

Der Leutnant und die ganze Kompanie folgten den beiden. Sie kamen näher, Schritt für Schritt, genauso wie das Feuer des Maschinengewehrs, auf das die zwei zuliefen, hügelan. Um sie her pfiff und krachte es. Sie warfen sich nieder und sprangen wieder auf. Die Kompanie war schon neben ihnen – und das MG auf dem Hügel verstummte.

Sie rannten weiter ohne Aufenthalt, immer noch in der ersten Reihe, immer noch dem erhofften Ziel entgegen, und endlich waren sie da.

Eine Pak-Granate hatte das MG zerfetzt, die Leichen der beiden russischen Soldaten lagen daneben. Es war ein alter mit einem grauen Schnauzbart voller Blut und ein sehr junger mit geschorenem Kopf. Hinter ihnen ein menschenleerer Wald. Sie waren die einzigen gewesen unter der zerzausten Pappel.

Der Leutnant starrte in den Trichter auf die Toten, strich sich über das nasse Gesicht.

„Menschenskind“, sagte er, „zwei Tage! Das hält man nicht für möglich! Zwei Tage haben die beiden uns aufgehalten, und wir haben gedacht, hier liegt eine Armee!“

Sie standen da und starrten auf die Leichen.

Der Leutnant drehte sich um. „Küster und Gutschmid, Sie haben zwar ohne Befehl gehandelt, aber Sie haben die Front ein ganzes Stück vorwärtsgebracht. War mir von Anfang an klar, dass Sie nicht auf den Kopf gefallen sind. Alte Hasen, was?“

Der Leutnant schlug ihnen auf die Schulter.

„Das bringt Ihnen das EK! Und Sonderurlaub, ist ja klar!“

Gutschmid war bleich, Robert Küster sah sein ratloses Gesicht in der schwindenden Nacht. Der Leutnant sagte, ohne auf die toten Russen zu deuten: „Graben Sie die ein. Oder ist das zuviel für Sie?“

„Nein, Herr Leutnant“, sagte Robert Küster, „das ist nicht zu viel für uns.“

Der Kriminalroman „Nebel“ von Wolfgang Schreyer erschien 1991 im Verlag Das Neue Berlin.

Schauen Sie mal rein:

Es tut elend weh, kein Blut in den Händen, die immer schwerer werden. Versuche, die Finger zu bewegen! Gut, dass es hell wird. Fast alle anderen sind in Jeans, du bist die Ausnahme, das reizt den Kerl. Schon wieder sein Knüppel glatt poliert im Nacken, am Rückgrat abwärts, vor die Brust getippt und nun höhnisch unters Kinn. Das zeigt deutlicher als Worte, du musst parieren, er genießt es, dir turmhoch überlegen zu sein. Ihn freut das erbärmliche Stück Macht, weil er selber sonst kuschen muss.

Und die Pöbelei der Übrigen, wenn der Trupp sich nähert: „Pisser, Penner, Assis …“ – „Stehen, bis sie weich sind.“ -“Wer abrutscht, darf noch mal.“ – „Meine steht gut im Schuh.“ – „Die Fotze da ist auch hübsch zäh.“ (Es klingt, als schließe man Wetten ab.) „Haben uns aufhängen wollen, ehj.“ – „Dem stehen wohl die Zähne zu eng?“ – „Wenn der Fisimatenten macht, schlag ihm die Scheiße aus dem Leib.“ – „Der Arsch von der Firma macht wieder Terror.“ – „Madam, woher das Pflaster? Was gehst du mit der Figur auch auf die Straße? Das kannst du bei uns leichter haben.“ – „Wer nicht spurt, kriegt ’ne Abreibung.“ – „Die machen wir fertig, gleich wird man sie sprinten sehen“ – „Das mussten die jedes Wochenende kriegen.“ – „Und zwar einzeln, individuell.“ – „Bis denen das Wasser im Arsch kocht.“

Landsknechte, denkt Jenny. Die Zeiten der Ketzerjagd. Unglaublich, dass diese Typen zur Schule gegangen sind. Das also hat der Sozialismus auch hervorgebracht. Plötzlich nichts mehr. Sie sind weggeschlurft; weiter. Ihr Ton ist ätzend, empörend das ganze Betragen, die Behandlung hier, selbst wenn man ihnen zugutehält, dass sie seit Tagen Bereitschaft haben und nach ihren Reden kaum aus der Uniform gekommen sind. So darf ein Mann nicht verludern, auch wenn er glaubt, im Bürgerkrieg zu sein. So benimmt sich kein Polizist, einerlei, was man ihm erzählt haben mag über die Opposition. Es sei denn, seine Oberen peilen die chinesische Lösung an und geben ihm grünes Licht, den Freibrief für Niederträchtigkeit im Vorfeld des Himmlischen Friedens.

Das Zerren im Unterleib nimmt zu, der Druck auf die Blase wächst. Als der Bewacher hinter ihr vorbeistreift, sagt sie: „Ich halt’s nicht mehr aus …“

„Beleg mich nicht von der Seite.“

„Ich muss mal.“ Es klingt wie im Kindergarten.

„Schon wieder? Hochziehen und ausspucken!“

„Verzeihung, aber es ist unerträglich.“

„Pissnelken seid ihr. Schwitz es durch die Rippen.“

„Bitte, es geht nicht mehr.“ Nur Betteln kann ihn erweichen.

Endlich sagt er: „Na ja. ich bin kein Unmensch. Los, hock dich hin, mach Pipi.“

Sie kauert nieder, fühlt erst Erleichterung, dann Scham. Es macht sie so wahnsinnig klein, ihr Kopf auf der Höhe seines Schritts, gebieterisch steht er vor ihr, dürfte zehn Jahre jünger sein.

„So human sind wir“, sagt er. „Verdient hast du’s nicht, du Schnepfe. Ihr wolltet uns fertigmachen, ja? Nun aber Schluss. Hose hoch, in Fliegerstellung! Nutz meine gute Laune nicht aus zum Schummeln. Einen Meter weg von der Wand und Botten auseinander …“ Die alte Litanei. Mit dem Stock korrigiert er ihre Haltung.

Jenny bebt vor Kälte, vor Wut, vor Angst, es nicht länger durchzustehen. Die Hände kribbeln, die Arme schlafen ihr ein, es zuckt in der Wade, ein Krampf kündigt sich an. Sie verringert den Abstand der Füße, rückt der Wand heimlich näher, legt die Handflächen auf, um den Muskelschmerz zu mindern. Sie muss es schaffen, wer schlappmacht, den prügeln sie hoch.

Das hat sie seit Mitternacht gelernt: Widerstand ist Warten, Schlottern, Quälerei in wechselnden Gängen und Höfen, ist Hundegebell, Hunger und Durst; nicht mal das Nötigste geben sie dir. Sich engagieren heißt hierzulande, kaum zu ahnen, wo du bist und was sich rings um dich tut. In Lastwagen durch die Stadt zu rumpeln, auf der Suche nach Zellen, nach Haftmöglichkeit und Vernehmungskapazität in überquellenden Revieren. Opponieren heißt, dich auf Kommando zu entkleiden, unter Aufsicht zur Toilette zu gehen, wenn überhaupt, und es bei offener Tür zu tun. Aufrechter Gang, das sind Spaliere prügelnder Bullen, Spießrutenlauf an jeder neuen Station, hechelnde Köter und die Furcht vor ihren Bissen. Menschliche Würde, das ist der Laufschritt treppauf, treppab, getrieben durch Knüppel, falls du zu langsam bist, Tritte in die Waden … Viehauftrieb, gehetzt von Rufen wie „kommste-kommste“, „Mensch-Mensch-Mensch“ und „Tempo, du Gurke, oder ich mach‘ dir Beine! So was Lahmes wie du braucht wohl nen Tritt in den Arsch!“.

Dieser miese schöne Alltag“ von Manfred Richter erschien 2014 bei EDITION digital. Die Erzählungen und Gedichte von Manfred Richter sind zugleich auch eine Summe von Lebenserfahrungen. Vom Großvater und der Großmutter bis zu den eigenen Kindern, hielt er einen Teil seines schweren und schönen Lebens auf spannende Weise fest. Gemeint ist die Beziehung zwischen Mensch und Mensch und die Beziehung zu den Dingen, die ihn umgeben, die konkrete Welt – auch wenn sie, am Gestern gemessen, der Welt von heute nicht immer entspricht.

Aber wer davon liest, wird sich vielleicht selbst in der einen oder anderen Geschichte erkennen oder deren Nähe spüren, halt in diesem miesen schönen Alltag.

Und hier eine kleine Leseprobe:

Die Birke

Nun bin ich alt. Beinahe 80 Jahre. Die hohe Birke vor meinem Fenster ist jünger, aber ihre weiße und schwarze Rinde ist runzliger als mein Gesicht.

Gestern kamen Männer und haben sie umgesägt. Sie war den Straßenbauern im Wege. Ich habe zugeschaut – und es hat mir wehgetan. An der Birke hängen so viele Erinnerungen, schöne und schwere Erinnerungen.

Einer der sägenden Männer warf etwas in den Graben. Da habe ich mich schnell gebückt. Und wirklich, es war, gänzlich voller Moos und Schmutz, das kleine braune Medizinfläschchen.

Jetzt musste ich an Annemarie denken. Wir waren beide elf oder zwölf Jahre alt und hatten uns lieb. Aber wir haben es nicht gesagt. Wir liefen mit roten Köpfen aneinander vorbei und haben uns zugelächelt. Mehr war da nicht. Dann aber das kleine braune Fläschchen. Annemarie hatte es leer von zu Hause mitgebracht. Dahinein schoben wir immer kleine Zettelchen mit einer Nachricht. Annemarie an mich, ich an Annemarie – „Muss mit Mama nach Birkenwerder“ oder „Dein neues Kleid ist dufte“.

Das Fläschchen verkorkten wir und steckten es in den Stamm der Birke. Da gab es ein kleines, beinahe zugewachsenes Loch. Früh, auf dem Weg zur Schule, habe ich mit spitzen Fingern das Fläschchen hervorgeholt. Und wenn ich lesen konnte: „Du bist Rad gefahren, hab Dich gesehen", dann war der Rest des Tages für mich schön.

Das ist nun weit über sechzig Jahre her. Das Fläschchen liegt wie eine Botschaft aus der Vergangenheit in meiner Hand. Mit einem spitzen Messer versuche ich den steinhart gewordenen Korken herauszupulen. Es misslingt. Das Fläschchen zerbricht. In meiner Hand liegt einer der winzigen Zettel. Ich erkenne auch jetzt noch Annemaries Schrift. „Kommst Du mit nach Sanssouci? Ist doch Sonntag“.

Damals habe ich den Zettel nicht mehr lesen können. In der Nacht zuvor war der schreckliche Bombenangriff auf Potsdam. Und Annemarie ist umgekommen. Wenige Tage später wäre sie 13 geworden.

Aber der Birke bin ich dankbar. Sie hat mein damaliges Leben aufbewahrt und mir heute, nach so vielen Jahren, wiedergeschenkt.

Jetzt liegt sie zersägt am Wegrand und wird weggefahren.

Wind vom Dach

So ein Rotzlöffel, denkt er, so ein verdammter grüner Rotzlöffel! Unter den derben Schnürschuhen raschelt das Herbstlaub, jetzt, wo er in der Dunkelheit durch den Park nach Hause läuft. Seine breite, wuchtige Gestalt hebt sich kaum ab von den mächtigen Buchenstämmen, die links und rechts den Kiesweg säumen. Und wie das Laub jetzt raschelt! Ordentlichen Lausbubenspaß macht es, so durch das knöcheltiefe raschelnde Laub zu schlurfen. Aber er will keinen Spaß haben. Er will grimmig sein und seine Mordswut auf diesen siebengescheiten Bengel ausdampfen.

Am Mittag, als er sich mit den sorgfältig in die Papprolle geschobenen Entwürfen zum Magistrat hin trollte, war er noch bei guter Laune gewesen. Er hatte geschwitzt unter seiner Baskenmütze und unter dem dicken Mantel, obwohl die Sonne nur wie eine saure Zitrone am Himmel hing. In der Papprolle unter seinem Arm hatte ein gutes Stück Arbeit gesteckt. Das waren sechs Monate Farbproben und Schmelzproben und wieder Farbproben und Entwürfe, mal ganz abgesehen von den Gedanken, die er sich gemacht hatte und von dem Berg Skizzen, die oben im Atelier neben dem Muffelofen lagen, und mit denen es begonnen hatte, als sie ihm vor einem halben Jahr den Auftrag gaben. Was er an diesem Mittag endlich den Auftraggebern hingebrachte hatte, war ein sauberes Stück Arbeit, ein Wandbild an der neuen Schule, drüben wo die Mulde mit weißen Schaumkronen durch die Wiesen fließt, wo die Sonne im Sommer durch die Holzapfelbäume helle Flecken auf die Wand wirft. Er hatte eine Weltkarte entworfen. Und da es eine Mercatorkarte war, passten die Kacheln, die er dafür verwenden wollte, gut zu den Längen- und Breitengraden. Den oberen Rand des Rechteckes sollten Sonne und Mond überschneiden. Er hatte leuchtendes Gelb, Ocker, Braun, Grün und Blau vorgezogen. Sein Rot verschmierte im Muffelofen doch nur zu einer süßlichen Himbeersoße. Wie er es gepackt hatte, bekam die Sache eine satte Kraft, die mit dem Sonnenspiel im Sommer um die Wette leuchten konnte. Und deshalb war er auch nicht mit dem Bus gefahren. Er hatte seine Freude daran gehabt, mit so einem guten Stück Arbeit durch den Park zu gehen und gegen den Wind zu laufen.

Zugegeben, anfangs hatte er den Auftrag so sehr ernst nicht genommen. Schließlich war das keine Weltausstellung, sondern nur die Schule am Stadtrand. Aber am Ende, soweit kannte er sich, hatte er sich noch in jede, auch in diese Arbeit verbissen.

Als er den Entwurf auf den Tisch rollte, und die Kommissionsmitglieder ihre Nasen darüber beugten, hatte er ein verdammt gutes Gefühl – bis dieser siebengescheite Bengel seinen Kopf hob und mit dem Zeigefinger auf die Gegend der Pyramiden klopfte. "Aber das sind zweihöckrige Kamele, nicht wahr?"

Das konnte nun jedes Kind sehen. Er hatte sich Vegetation, typische Tierarten und Menschen in ihren Trachten für die Darstellung geografischer und nationaler Besonderheiten ausgesucht. Ahnungslos genickt hatte er. Aber der Junge sagte: "Es sind Trampeltiere. Die leben in Asien. In Nordafrika sind es Dromedare. Sie haben nur einen Höcker."

Nun gut! Er hatte gelacht. Obwohl es natürlich schade war wegen des Effektes. Auch die anderen feixten. Damit wäre die Sache abgetan gewesen. Und Leuthold, der Vorsitzende, griff schon nach der Zigarrenkiste. Alle lehnten sich zurück in die Stühle, und er hatte gewusst: Entwurf genehmigt.

Nur der Bengel rauchte nicht. Weiß der Teufel, wo er herkam. Er hatte ihn noch nie in der Kulturkommission sitzen sehen. Aber die freche, siebenkluge Fresse würde er nicht so leicht vergessen, das war sicher.

Der Krimi „Der Serienmörder, den man nicht stellte“ von Jan Fieger erschien 2018 bei EDITION digital. Über die Dunkelziffer der nicht entdeckten Serienmörder in Deutschland gibt es nur Vermutungen. So auch über die Zeit unmittelbar vor der Wende und in der danach. Ein Mann fährt mit seinem Brummi herum in den neuen Bundesländern, ein Mann, der als Serienkiller junge Tramperinnen tötet und dann tief in den Wäldern vergräbt. So gelten die Toten nur als vermisst. Und die Herren der Mordkommission sind sowieso ausgelastet, sie haben Tote genug, so auch ein Opfer im Wagen der Geisterbahn eines Rummels. Bis hoch an die Ostsee treibt sie die Jagd nach dem Mörder. Aber das Morden des Serienkillers geht weiter, nur die Abstände zwischen seinen Taten werden kürzer. Der Chef der Mörderjäger hat zwar eine dunkle Ahnung von seiner Existenz, aber keine Opfer. Doch ausgerechnet er muss seinen Hut nehmen. Was aber geschieht, wenn das Monster nie gefasst wird? Wahrheit und Fiktion in einem "underground crime" der besonderen Art, mit einem Ende, das gewiss schockt, weil die Leserin oder der Leser es so nicht erwarten.

Schauen Sie doch mal rein:

Die Hände des Mannes lagen locker auf dem Lenkrad, er hörte Vivaldi, und er hörte das Konzert sehr laut, und die rauschhafte Musik erfüllte das ganze Fahrerhaus.

Der Mann fühlte sich ausgesprochen gut.

Es war Nachmittag, und die Sonne stand hinter ihm, so fuhr er lieber, denn die Sonne störte ihn, wenn sie ihn von vorn anstrahlte.

Die Straße vor ihm war beinahe leer.

Er dachte an diese jungen Dinger, immer wieder, und ein erregendes Gefühl erfüllte ihn, aber er durfte es auch nicht übertreiben, denn Deutschland hatte gute Ermittler, das wusste er. Man musste sie sehr ernst nehmen.

Aber es war immer gut gegangen bisher, also keine Panik!

So konnte es weitergehen und das Glück blieb ihm treu, das glaubte er, sicher zu wissen.

An der nächsten Kneipe würde er halten und einen Pott Kaffee trinken.

Er würde ihm guttun.

Vor seinem inneren Auge sah er das letzte Mädchen, „sein“ Mädchen, wie er es nannte, aber es waren ja alles „seine“ Mädchen.

Ein weißer Wartburg schlich förmlich vor ihm her.

Er ärgerte sich, doch er überholte ihn nicht.

Nie auffallen! Das war seine Devise.

Er summte die Musik mit.

Warum nur fuhr dieser Typ vor ihm nicht schneller? Warum kaufte er sich nicht ein richtiges Auto?

Er blickte auf die Uhr. Er lag gut in der Zeit, aber Hilde plante ja immer so, dass er ausreichend Ruhezeiten hatte.

Nur konnte sie nicht wissen, wofür er sie nutzte.

Er grinste in sich hinein.

Die strenggläubige Hilde und der Serienmörder, eine filmreife Geschichte, schwarzhumorig, aber im Film würde er dann gefasst werden, Krimis waren eben Märchen, aber die einfache Volksseele brauchte sie, die Märchen für Erwachsene. In zwanzig Jahren, hatte er mal irgendwo gelesen, würde jede zweite Frau einen Krimi schreiben.

O Gott! Schon die heutigen Krimis waren schlimm genug.

Ein Kind winkte ihm zu.

Und er winkte zurück.

Warum nicht. Er konnte eine kleine Freude schenken, jawohl.

Seine Freude aber war eine junge Frau, die er nie zuvor gesehen hatte, die ihn hochmütig musterte und dann aber, auf seinem Schlafplatz, zum heulenden Elend wurde.

Etwas Besseres konnte es nicht geben!

Nie!

Das Buch „Weihnachtshund und Bambusrüssel“ von Dietmar Beetz erschien 2001 im Verlag Edition D. B., Erfurt. Sandra bangt um Adolar, ihren Wellensittich, Hanh um „Bambusrüssel’’, den gezähmten Wildelefanten, Uli um den Hund, der unterm Tannenbaum saß, neben drei Teddybären, einem Gestiefelten Kater, zwei Kamelen … Beetz erzählt Tiergeschichten, die zugleich Geschichten von Menschen sind, von Kindern und von älteren Leuten handeln. Was ihnen widerfährt und was sie erkämpfen – egal, ob hierzulande oder im vietnamesischen Bergland – all das ist anrührend und abenteuerlich, oft überraschend und auch deshalb spannend für jung und alt.

Eine kleine Kostprobe gefällig?

Wieder war die Kolonne unterwegs – neuerdings ein Dauerzustand. Seit auch die Häfen des Landes bombardiert wurden und Hölzer nicht mehr ausgeführt werden konnten, mussten die Elefanten fast ständig als Fernlastträger auf den Beinen sein.

Sie transportierten hauptsächlich Waffen und Munition.

So auch an jenem Septembertag.

Eigentlich war die Gefahr geringer als sonst; denn über den Bergen hing eine dichte, vom Wind geblähte Wolkendecke. Bei solchem Wetter, bei solcher Sicht blieben die Düsenbomber zwar nicht fern, doch gelang es ihren Piloten trotz aller Geräte schlechter als bei klarem Himmel, Schaden anzurichten.

Um so unverständlicher – die Unruhe, die Nervosität von Bambusrüssel.

Hanh hatte schon sämtliche Tricks probiert, dem Elefanten auf den Zahn zu fühlen, seine Signale zu ergründen oder als Schabernack zu enttarnen. Vergebens. Wie vertraut er auch mit ihm war – sprechen konnten sie nicht miteinander, was Hanh nicht abhielt, Bambusrüssel die Haut hinter den Ohren durchzuwalken und forschend oder besänftigend auf ihn einzureden.

Nicht einmal das half weiter. Der Elefant blieb schreckhaft, spürbar nervös; die Walkerei schien ihn sogar zu stören, ihm lästig zu sein.

„Was hast du nur?“, fragte Hanh in eines der wedelnden, vibrierenden Ohren. „Hörst du was, oder ist dir zu heiß?“

Keine Antwort, nichts außer einem klatschenden Schlag.

„Ach, Bambusrüssel! Meinst du, mich piesackt das Mückengesindel nicht? Aber was hilft ’s? Wir können doch nicht auf und davon fliegen oder uns vor dem Ungeziefer verkriechen!“

Als sei der Elefant absolut und entschieden anderer Meinung, verließ er plötzlich den Pfad, dem er bisher gefolgt war, und drang ohne weitere Warnung ein in das Dickicht eines Quer-Tals, aus dem ein Bach floss.

„Halt!“, schrie es aus der Kolonne. „Spielt ihr verrückt?“

Hanh spürte die Versuchung, Bambusrüssel gleichfalls anzuschreien, ja auf ihn einzuschlagen. Wie vor jenem ersten Bombenangriff fegten Äste über ihn hinweg oder peitschten auf ihn herab, und nicht nur das; sie überschütteten ihn auch mit Nässe und – schlimmer – mit Blutegeln, die ihm zu Dutzenden unter das Hemd und auf die Haut gerieten.

Eine Weile empfand der Junge Ekel und Angst.

Dieses widerliche Gewürm! Als wäre die Schwüle nicht schon lästig genug! Nun auch noch die Bisse der Blutsauger und …

Ein Zweig schlug ihm ins Gesicht, und Hanh fuhr sich unwillkürlich über die Lider.

Im nächsten Moment glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Ein zweiter Bach, einer, der bergauf fließt, bergauf – krabbelt?

Auch Bambusrüssel schien das Gewimmel auf einer Felsnase, die in das Tal reichte, bemerkt zu haben, mehr noch: Er hatte offenbar vor seinen Füßen den verborgenen Lauf dieses fast meterbreiten Ameisenstromes ausgemacht, die Straße im Unterholz, über die er jetzt vorsichtig hinwegstieg.

Indessen kamen andere Elefanten heran, Lastträger, die dem Leittier gefolgt waren – auf dem ersten der Vater von Hanh, der gleichfalls zu jener Felsnase blickte, wortlos, gebannt.

Dann hatte Bambusrüssel die Ameisenstraße überquert, und nun hielt er sich neben dem Strom aus Insekten, der hinter dem Felsvorsprung streckenweise wieder in Modder und Grün versank. Überall, wo er sichtbar wurde, hatte es den Anschein, als wäre er schneller als die Elefanten, als eilten ihnen die Ameisen davon.

Dabei bewegten sich Bambusrüssel und seine Artgenossen keineswegs gemächlich voran. Sie durchbrachen das Dickicht, das bald dicht, bald lichter wuchs, stapften durch Sumpf, der sich an jenem Bach gebildet hatte, drangen so immer tiefer ein in das Quer-Tal. Bis sie plötzlich vor einem Hang standen.

Hier endete auch die Ameisenstraße. Wie Quellwasser, das rückwärts fließt, verschwanden die Insekten unter Felsbrocken.

Ameisen, die sich unter Geröll verkriechen, die fliehen?

Hanh war herabgeglitten von Bambusrüssel, und auch Vater und die anderen Treiber saßen ab. Sie alle atmeten schwer, und sie alle starrten auf den scheinbar endlosen, im Hang verschwindenden Strom.

Oder horchten sie, lauschten auf das Fauchen, das die Lüfte über dem Tal erfüllte?

Der Himmel hatte irgendwann die Farbe gewechselt. Aus Septembergrau war Grün geworden, ein Licht, das jetzt in Sekundenschnelle einen gelblichen Schimmer bekam. Dazu dieses anschwellende, heulende Fauchen …

Vater und die anderen Männer wechselten einen Blick und traten wie auf Verabredung noch dichter zusammen. Dabei fiel kein Wort, doch hatte inzwischen auch Hanh begriffen, wovor die Ameisen geflohen waren und was Bambusrüssel schon vorher gewittert hatte.

Und dann erlebte der Junge gleich allen anderen, wie dort, wo sie abgebogen waren, ein Taifun vorbeizog.

Der Wirbelsturm folgte offenbar dem Tal, durch das ihre Marschroute verlief, und vermutlich war das, was sie da unten zu sehen bekamen, nur ein Ausläufer des Orkans. Dennoch verschlug den Atem, was sich in einiger Entfernung über den Wipfeln bot, dieser Wirbel aus empor gerissenem, hochgeschleudertem Erdreich, Laub, Gehölz – eine Säule, die aufstieg, zusammenfiel, weiterwandernd wieder in die Wolken wuchs.

Hoffentlich haben Sie genügend Zeit, die beiden – wenn auch sehr unterschiedlichen – Krimis aus dem heutigen Angebot zu lesen, die jeweils auf ihre Art auch politische Krimis sind. Und spannend sind beide Texte dazu auch noch. Das dürfte die Entscheidung erleichtern.

Aber auch die anderen drei Sonderangebote der heutigen Post aus Pinnow lohnen die Lektüre. Das gilt für die Lebenserfahrung von Manfred Richter in „Der miese schöne Alltag“ wie für die tragikomischen Biografie des Robert Küster in „Der Tod des alten Mannes“ von Egon Richter – beide Autoren sind weder verwandt noch verschwägert – sowie für die Tier- und Menschengeschichten „Weihnachtshund und Bambusrüssel“ von Dietmar Beetz, wovon zumindest eine mit dem Fest der Liebe zu tun hat.

Viel Vergnügen beim Lesen, kommen Sie weiter gut durch den Dezember, bleiben auch Sie am Ende dieses Jahres weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Im zweiten Dezember-Newsletter steht in der nächsten Woche auch ein Klassiker der DDR-Literatur zur Auswahl: der sprachgewaltige Roman „Spur der Steine“ von Erik Neutsch, der in den frühen Jahren der jungen Republik spielt und nicht zuletzt durch seine großartige Verfilmung durch DEFA-Regisseur Frank Beyer mit Manfred Krug (Balla) und Eberhard Esche (Parteisekretär) bekannt und berühmt geworden ist, aber auch durch das kurz nach seiner Premiere erfolgte Verbot des Films: Geld, Frauen und das Gefühl, ein Herrscher zu sein auf dem Bau: Das vor allem gehört zum Bild vom angenehmen Leben für den unruhig von Baustelle zu Baustelle streunenden Glückssucher Hannes Balla. Er rebelliert, trumpft auf, wehrt sich: gegen die Anweisungen der Bauleitung, die Forderungen der Partei, gegen sein Gefühl für Katrin Klee, die junge Diplomingenieurin, gegen Horrath, den neuen Parteisekretär von Schkona. Eine noch immer spannende Lektüre sowie ein aufregender und besonderer Blick zurück.

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