Stuttgart, 25.01.2024 (lifePR) – Die Diakonie ist betroffen darüber, dass Menschen in ihren Einrichtungen sexualisierte Gewalt erleiden mussten. Die heute vorgestellte ForuM-Studie hilft, die Geschehnisse in Diakonie und Kirche systematisch weiter aufzuarbeiten.
Oberkirchenrätin Dr. Annette Noller, Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg sagt: „Mit der ForuM-Studie liegen uns detaillierte Forschungen vor, die uns helfen, noch besser zu verstehen, wie es in Diakonie und Kirche zu sexualisierter Gewalt an Menschen kommen konnte. Ich bin sehr betroffen darüber, dass in der Diakonie großes Leid und Unrecht geschehen ist. Das ist nicht entschuldbar. Hinter jedem einzelnen Fall steht ein schweres Schicksal, das die Betroffenen bis heute, ein Leben lang schwer belastet. Wir müssen alles tun, aufmerksam und professionell aufgestellt sein, damit sexualisierte Gewalt möglichst nicht vorkommt. Die Studie ist ein wichtiger Baustein im Prozess der diakonischen Aufarbeitung, sie zeigt uns, welche Missstände und Lücken wir schließen müssen, damit Menschen in unseren Einrichtungen vor sexualisierter Gewalt geschützt sind. Ich bin froh, dass in der Studie Betroffene und ihre Erlebnisse zu Wort kommen. Es ist uns wichtig, mit betroffenen Menschen, wenn sie es wollen, direkt im Gespräch zu sein. Wir werden die Studie intensiv lesen und analysieren, um unsere umfangreichen Aktivitäten zum Schutz der uns anvertrauten Menschen noch weiter zu verbessern.“
Für die Studie hatte die Diakonie Württemberg alle ihr bekannten 107 Personen gemeldet, die als Minderjährige sexualisierte Gewalt von Mitarbeitenden erlitten haben. „Die Diakonie bekam Kenntnis von ihnen, weil sie sich an unsere unabhängige Kommission mit Anträgen auf Anerkennungsleistungen gewandt haben. Wir müssen leider davon ausgehen, dass die wirkliche Zahl weit darüber liegt“, merkt Annette Noller an.
Eine wesentliche Absicht der ForuM-Studie war es, „Begünstigungsfaktoren“ für sexuellen Missbrauch in den Einrichtungen zu ermitteln. Die für die ForuM-Studie analysierten Fälle beziehen sich auf das Nachkriegsdeutschland bis hinein in die 1980er Jahre. Zu dieser Zeit wurde sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen nicht konsequent geahndet. Das ist aus bisherigen Studien bereits bekannt. Sexualität war tabuisiert, Übergriffe wurden vertuscht. Kindern und Jugendlichen, die Übergriffe gegenüber Dritten meldeten, wurde nicht geglaubt, oder ihnen wurde die Verantwortung für die erfahrene sexualisierte Gewalt zugewiesen. Diejenigen, die sich trauten, Übergriffe gegenüber Heimleitern oder pädagogischen Fachkräften anzusprechen, erfuhren häufig erneut Gewalt. „Dass dies so geschehen ist, ist erschütternd und darf so nicht wieder vorkommen“, sagt Noller.
Heute berät die Ansprechstelle der Diakonie Württemberg Betroffene, die aktuell sexualisierte Gewalt erfahren, hört ihnen zu und informiert sie über Schritte, um ihre Gewaltsituation zu beenden. Bei Bedarf vermittelt die Ansprechstelle zu spezialisierten Fachberatungsstellen, Therapien und anderen Unterstützungsangeboten weiter. Auf Wunsch unterstützt die Ansprechstelle bei der Suche nach archivierten Dokumenten und bei der Kontaktaufnahme mit den Einrichtungen, in denen sexualisierte Gewalt erlitten wurde. Die Ansprechstelle vermittelt den Kontakt zur Unabhängigen Kommission und unterstützt Betroffene bei der Beantragung von Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen.
Auch sollen die vorgeschriebenen Schutzkonzepte und andere Präventionsmaßnahmen sicherstellen, dass in Einrichtungen Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt geprüft und gegebenenfalls disziplinarisch und strafrechtlich geahndet werden. Die Mitglieder der Diakonie verpflichten sich, Schutzkonzepte für alle Einrichtungen und Dienste zu entwickeln. Diese regeln die Maßnahmen der Prävention in den Einrichtungen, das Vorgehen bei Verdachtsfällen und den Umgang mit begründeten Verdachtsfällen. Für die Arbeit mit Minderjährigen (in der Jugendhilfe und Behindertenhilfe) sind Schutzkonzepte auch durch die sozialgesetzlichen Rahmenbedingungen gefordert. Das Landesjugendamt als Heimaufsicht überprüft dies im Rahmen der Erteilung einer Betriebserlaubnis.
Die Landesgeschäftsstelle unterstützt mit ihrer „Fachstelle sexualisierte Gewalt“ die Einrichtungen bei der Entwicklung und Umsetzung von Schutzkonzepten. Sie entwickelt mit den Fachverbänden handlungsfeldbezogene Konzepte und stellt Standards zu Prävention, Intervention und Aufarbeitung zur Verfügung. Sie berät sie bei einrichtungsbezogenen Maßnahmen zur Gewaltprävention und organisiert fortlaufend Fachtage und Qualifizierungsangebote für Leitungs- und Fachkräfte zur Aufklärung, Wissensvermittlung und zur einrichtungsbezogenen Umsetzung.
Das Diakonische Werk und seine Mitgliedseinrichtungen haben seit 2013 ihre Geschichte in Bezug auf alle Formen von Gewalt mit externer wissenschaftlicher Unterstützung aufgearbeitet. 2017 erschien die Publikation „Meine Seele hat nie jemanden interessiert“, in der Vorkommnisse und Begünstigungsfaktoren für Gewalt in der Heimerziehung erforscht und dargestellt wurden. Ein Kapitel beschäftigt sich explizit mit sexualisierter Gewalt. 2015 wurde spezifisch für Betroffene von sexualisierter Gewalt gemeinsam mit der Landeskirche eine Unabhängige Kommission von Evangelischer Landeskirche und Diakonischem Werk eingerichtet.
„Menschen, die früher oder jetzt von jeglicher Form von Gewalt in diakonischen Einrichtungen und Diensten betroffen sind, können sich jederzeit bei unserer Ansprechstelle melden“, betont Oberkirchenrätin Annette Noller. „Wir müssen noch besser werden und das Leid uneingeschränkt anerkennen, das Menschen in unseren Einrichtungen widerfahren ist.“
Hintergrund
Der Forschungsverbund „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ unter der Leitung von Prof. Dr. Martin Wazlawik hatte heute in Hannover die Ergebnisse der Aufarbeitungsstudie an die amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischöfin Kirsten Fehrs, übergeben. Die von der EKD und ihren Landeskirchen 2018 initiierte und mit 3,6 Millionen Euro unterstützte Studie hat erstmals sexualisierte Gewalt systematisch und wissenschaftlich für den gesamten Bereich der evangelischen Kirche und Diakonie untersucht. Besonderes Augenmerk lag auf den systematischen Faktoren und Risikostrukturen für sexualisierte Gewalt speziell in der evangelischen Kirche und Diakonie. Begleitet wurde das unabhängige Forschungsprojekt von einem Verbundbeirat der aus externen Wissenschaftler*innen, Betroffenen von sexualisierter Gewalt und kirchlichen Beauftragten besteht. Die Ergebnisse der Studie können unter www.forum-studie.de abgerufen werden.