Mit „Murot und der Elefant im Raum“ (Sonntag, 28. Dezember, 20:15 Uhr im Ersten) meldet sich der Wiesbadener „Tatort“ mit einem weiteren Sonderfall zurück. Ulrich Tukur (68) steht erneut als Felix Murot im Mittelpunkt eines Films, der weniger auf klassische Ermittlungsarbeit setzt als auf psychologische Motive. Regisseur und Drehbuchautor Dietrich Brüggemann (49) knüpft damit an frühere Murot-Fälle wie „Murot und das Murmeltier“ an und nutzt das Format erneut für eine erzählerische Versuchsanordnung jenseits des gewohnten Krimi-Schemas.
Für zusätzliche Aufmerksamkeit sorgen auch prominente Gastauftritte. Christian „Flake“ Lorenz (59) von Rammstein sowie Musiker Heinz-Rudolf Kunze (69) sind in Nebenrollen zu sehen. Sängerin Christiane Rösinger (64) war ursprünglich ebenfalls für den Film vorgesehen, sagte ihre Mitwirkung jedoch ab. Gegenüber dem „Spiegel“ erklärte sie, sie wolle zwar „keine große Sache“ daraus machen, sehe sich aber nicht in der Lage, in einem Projekt mitzuwirken, an dem Flake beteiligt sei. Ihre Ablehnung bedeute kein „Canceln“ des Musikers, vielmehr wolle sie nicht mit dem „System Rammstein“ in Verbindung gebracht werden, das aus ihrer Sicht ihren eigenen künstlerischen Positionen widerspreche.
Hinzu kommt, dass auch Regisseur Brüggemann selbst seit einigen Jahren als öffentliche Reizfigur gilt. Während der Corona-Pandemie hatte er als Mitinitiator der Aktion „#allesdichtmachen“ für erhebliche Kritik gesorgt, nachdem die Kampagne unter anderem Zustimmung aus verschwörungsideologischen und rechten Milieus erhalten hatte. Vor diesem Hintergrund wird der neue Murot-Krimi nicht nur als Fernsehfilm wahrgenommen, sondern auch im Kontext der öffentlichen Debatten um seine Beteiligten – ohne dass diese Themen Teil der Handlung sind.
Darum geht’s im „Tatort: Murot und der Elefant im Raum“
Kommissar Murot (Ulrich Tukur) kämpft zunehmend mit den seelischen Belastungen seines Berufs und lässt sich auf ein ungewöhnliches therapeutisches Experiment ein: Mithilfe einer neuartigen Apparatur ist es möglich, durch die eigene Psyche zu wandern wie durch eine Landschaft. Doch selbst Psychiater Dr. Schneider (Robert Gwisdek, 41) kann Murot zunächst nicht dabei helfen, die Bilder und Eindrücke dieser inneren Reise einzuordnen.
Parallel dazu steht Eva Hütter (Nadine Dubois, 42) mit ihrem fünfjährigen Sohn Benjamin vor dem Familiengericht. Als sich abzeichnet, dass ihr das Sorgerecht entzogen werden könnte, trifft Eva eine impulsive Entscheidung: Bewaffnet lediglich mit einem spitzen Bleistift nimmt sie ihr Kind an sich und flieht. Benjamin glaubt an einen gemeinsamen Urlaub, nicht an eine Entführung. Eva versteckt sich mit ihm in einer abgelegenen Waldhütte im Taunus. Als sie kurz darauf allein unterwegs ist, wird sie entdeckt, verunglückt bei einer Verfolgung und fällt ins Koma. Während Eva bewusstlos im Krankenhaus liegt, bleibt Benjamins Aufenthaltsort unbekannt.
Murot und Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp, 60) stehen vor einem Rätsel. Schließlich kommt Murot ein riskanter Gedanke: Könnte es möglich sein, mithilfe der Maschine in das Bewusstsein der komatösen Eva einzutauchen, um aus ihrem Inneren Hinweise auf den Aufenthaltsort des Kindes zu gewinnen? Murot wagt daraufhin eine gefährliche Reise in die Gedankenwelt einer anderen Person – und stößt dabei zugleich an die Grenzen seiner eigenen Psyche.
Lohnt sich das Einschalten?
Für wenige ja, für die meisten wahrscheinlich eher nicht: „Murot und der Elefant im Raum“ ist kein Krimi im klassischen Sinn. Wer am Sonntagabend eine stringent erzählte Mordermittlung mit klarer Spurenlage, Verdächtigen und Auflösung erwartet, dürfte sich von diesem Film eher abgestoßen fühlen. Der neue Wiesbaden-„Tatort“ interessiert sich nur am Rand für kriminalistische Logik und nutzt den Fall vor allem als Ausgangspunkt für ein formales und psychologisches Gedankenspiel. Die Handlung folgt dabei weniger äußeren Abläufen als inneren Zuständen – mit bewussten Brüchen, surrealen Bildern und einer Erzählweise, die sich immer wieder vom Realismus löst.
Gerade darin liegt jedoch auch die künstlerische Qualität des Films. Dietrich Brüggemann nutzt das „Tatort“-Format erneut als Experimentierfeld und lotet aus, wie weit sich ein Fernsehkrimi in Richtung Parabel, Märchen und Groteske verschieben lässt. Ulrich Tukur trägt diesen Ansatz mit großer Präsenz und macht Murot einmal mehr zur Projektionsfläche für Zweifel, Erschöpfung und Kontrollverlust. Der Film fordert extrem viel Geduld und große Offenheit, sich auf diese ungewöhnliche Form einzulassen – belohnt dies dann aber schon mit einer durchaus reizvollen Variation des Genres. Für das breite Publikum dürfte das aber einfach zu sperrig sein. Lediglich als künstlerischer Sonderfall innerhalb der „Tatort“-Reihe behauptet sich dieser Film.
Irritierend ist jedoch ein Drehbuchkniff im Schlussdrittel, der über den konkreten Fall hinausweist: Die Experimente des Psychologen Dr. Schneider werden von Murots Vorgesetzten untersagt, der Kommissar selbst wird sogar beurlaubt. Zuvor war Schneider eine Nähe zu „Schwurblern“ und dubiosen, sektenähnlichen Gruppierungen vorgeworfen worden, teils auch mit Indizien belegt. Der Film unterläuft diese Warnung jedoch, indem sich Schneider und Murot den Anweisungen widersetzen – und schließlich gemeinsam den entscheidenden Durchbruch erzielen.
Damit entsteht der Eindruck, als könne das Skurrile und wissenschaftlich Fragwürdige am Ende näher an der Wahrheit liegen als herkömmliche, institutionell abgesicherte Ansätze. Im konkreten Fall geht es um einen abstrusen, pseudowissenschaftlichen, medizinisch hochriskanten und juristisch auf allen Ebenen klar verbotenen Eingriff, der aber im Gegensatz zur klassischen Polizeiarbeit als erfolgreicher und sinnvoller dargestellt wird. Der Film formuliert diese Haltung nicht offen, lässt sie jedoch als mögliche Lesart passend zum Filmtitel wie einen Elefanten im Raum stehen – eine Ambivalenz, die künstlerisch gewollt sein mag, in aktuellen gesellschaftlichen Debatten jedoch eine sensible Deutungsebene berührt.
(dr/spot)
Bild: Ulrich Tukur als „Tatort“-Ermittler in „Murot und der Elefant im Raum“. / Quelle: HR/Senator Film/Dietrich Brüggeman



